Am See Genezareth gehen die Uhren anders
Tiberias Ufer

Am See Genezareth gehen die Uhren anders

Immer wieder zieht es mich in den Norden des Landes, in die Ebenen von Galiläa, rund um den See Genezareth, welchen die Bewohner des Landes Kinneret nennen.

Hier findet sich ein Stück Israel, das weit entfernt ist vom Trubel Tel Avivs, den hektischen Highways und den Problemzonen des Westjordanlands. Knapp 200 Meter unter dem Meeresspiegel erstreckt sich die wunderbare Welt des Kinnerets, das größte Süßwasserreservoir Israels.

Wenn man am Westufer des Sees sitzt und über die spiegelglatte Oberfläche gen Osten blickt, schaut man auf den Rücken des Golangebirges, dessen erodierte Hänge das Gefühl einer längst vergessenen Zeit heraufbeschwören. Und in der Idylle von Schilfgras, Kormoranen und Haubentauchern ist es nahezu unvorstellbar, dass nur weniger Kilometer von hier, jenseits der Grenze mit Syrien ein hoffnungsloser Bürgerkrieg tobt.

Aber es ist genau dieses Gefühl von verlorener, längst vergessener und wiedererinnerter Zeit, das jeden Aufenthalt am See Genezareth so einmalig macht. Und so ticken die Uhren auch anders in der kleinen Stadt Tiberias am Ufer des Sees, das mit seinen Hotels einerseits ein beliebtes Urlaubsziel darstellt, andererseits aber auch neben Jerusalem, Zfat und Hebron zu den vier “Arey Kodesh”, den “heiligen” Städten des Landes gehört.

Über die Stadt Tiberias lässt sich vieles sagen, und allein ein Blick auf die Wikipedia Seite der Stadt reicht aus um sich ein kurzes Bild der langen und verwickelten Geschichte dieses Ortes zu verschaffen. Was das moderne Tiberias betrifft, so ist es eine kleine, fast schon verschlafene (wenn dieses Wort auf irgendeinen Ort in Israel zutreffen kann) Stadt, in der religiöse und säkulare Juden die demographische Basis bilden, die jedoch durchwachsen ist von einem ständigen Zustrom christlicher Touristen. Außerdem gehören hier, wie in ganz Galiläa, Arabisch und Kopftuch ganz selbstverständlich zum Stadtbild mit dazu, und von der so oft heraufbeschworenen “Apartheid” ist hier keine Spur, ganz im Gegenteil scheinen die Einwohner des Nordens Israels in ihren alltäglichen Gesprächen ganz mühelos von Arabisch zu Hebräisch zu wechseln, und umgekehrt.

Kürzlich habe ich erfahren, dass ein Adjektiv im Hebräischen existiert, “tveriani”, welches die Lebenseinstellung der Menschen aus Tiberias beschreibt und auf eine lebensfrohe, gemäßigte und generell entspannte Lebensweise hindeutet, die bei den durchschnittlichen 36 Grad Celsius im Tiberianischen Sommer leicht verständlich wird. Der See Genezareth füllt den Boden eines großen kesselförmigen Tales aus, das bei starker Sonneneinstrahlung den Effekt eines Kochtopfs hat, und wer sich bei dieser Hitze abhetzt, der hat gleich schon verloren.

Vieles lässt sich noch über See Genezareth und seine Umgebung sagen, sei es über die von deutschen Mönchen administrierte Kirche in Kapernaum, wo das biblische Wunder Jesu von der Fisch- und Weinvermehrung geschah, die eigenartige geologische Lage des Ortes direkt im Jordangraben, wo afrikanische und arabische tektonische Platten sich verschränken, oder über die heißen Quellen Tiberias, die der Sage nach durch Salomons stumme Dämonen aus dem Gestein stießen, aber eines ist klar: Dieser See und seine Umgebung haben eine ganz eigene Art ihre Wirkung noch lange zu verbreiten, nachdem man diesen einzigartigen Ort verlassen hat.