Die Imagination hat im Nahen Osten eine äußerst große gesellschaftliche und kulturelle Tragweite — der Gedanke an die großen drei Weltreligionen drängt sich nahezu auf, deren Ideen von Himmel, Hölle, Engeln, Feuerwesen und Wundertaten alle jener speziellen Art blühender Fantasie zu entspringen scheinen, welche vorzüglich auf Hitzeflimmern über heißem Sand gedeiht.
Man muss jedoch gar nicht so tief in der Literatur buddeln und Diskussion über den Wahrheitsgehalt sogenannter göttlicher Offenbarungen anleiern, um die Bedeutung der Vorstellungskraft für das tägliche Leben im Nahen Osten besser zu verstehen.
In Israel sind es nicht zwangsläufig die “Geschichten aus tausend und einer Nacht”, die den Alltag prägen, die Imagination zeigt sich hier vielmehr implizit im Verhalten. So wird man im Alltag zum Beispiel häufig mit Bemerkungen und Fragen über seine Person konfrontiert, die mehr über den Bemerkenden und Fragen und sein kulturelles Gedankengut auszusagen scheinen, als über einen selbst.
Die folgende Anekdote ereignete sich in einem Fahrstuhl eines Mietshauses, zwischen dem zwölften und ersten Stockwerk:
Meine Frau und ich waren im zehnten Stock in den Aufzug gestiegen, mit der Absicht Richtung Erdgeschoss zu fahren, aber nachdem sich die Türen geschlossen hatten, fuhren wir zwei Stockwerke hinauf. Die Türen schoben sich beiseite und ein älterer Mann (vermutlich osteuropäischer Herkunft) mit einem Gehwägelchen bewegte sich Zentimeter für Zentimeter in den Fahrstuhl. Ich blockierte mit einer Hand das schwarze Auge des automatischen Verschlussmechanismusses, als eine Stimme (auf Hebräisch) aus dem Off drang: “Od me-at“, rief eine Frau, was soviel bedeutet wie “Komme gleich!”
Und tatsächlich erschien die Frau wenige Sekunden später, mit hochfrisierten Haaren und wippendem Gang, und bestieg den Fahrstuhl, der mit vier Personen und einem Gehwägelchen beinahe ausgelastet war.
“Yesh makom“, sagte die Frau zu ihrem Ehemann auf Hebräisch, was soviel bedeutet wie: “Es ist genug Platz.”
“Nachon. En baya”, entgegnete ich also auf Hebräisch, lose übersetzt: “Genau. Kein Problem.”
Die Frau starrte mich mit großen Augen an und sagte: “Ooooh! Vy govorite po-russki?!” (übersetzt: “Du sprichst Russisch?”)
“Nein”, dachte ich als Antwort. Ich spreche weder Russisch, noch hat irgendwer in den letzten Augenblicken auch nur ein Wort auf Russisch erwähnt. Und so ging es abwärts vom zwölften Stock Richtung Erdgeschoss.
Die Frau war ganz aus dem Häuschen, begann nun auf Russisch meine Frau anzusprechen, und als diese ihr zu verstehen gab, das sie des Russischen ebenso wenig mächtig sei wie ich, setzte die Frau, deren Ehemann übrigens nur sprachlos auf seinem Gehwägelchen lehnte, zum nächsten gedanklichen Sprung an.
“Sprecht ihr auch Russisch mit den Kindern?”, fragte sie meine Frau auf Hebräisch. Nun sprachen wir also nicht nur Russisch, sondern hatten auch Kinder, mit denen wir auf Russsisch sprachen. Die Frau schien ihr eigenes Bild zu malen und blendete unsere Einwände einfach aus. Leicht irritiert von diesen fadenscheinigen Annahmen, sagte meine Frau (auf Hebräisch): “Ja, die Kinder in der Nachbarschaft sprechen Russisch.”
“Die Nachbarschaft?”, fragte die Frau auf Hebräisch, breit grinsend. “Und zu Hause? Was sprecht ihr zu Hause?”
“Rak Ivrit“, sagte ich, was soviel bedeutet, wie “Nur Hebräisch” und ebensowenig der Wahrheit entsprach wie die neugierigen Annahmen unserer russischen Ko-Passagierin.
“Rak Ivrit“, wiederholte die Frau, scheinbar enttäuscht, dass wir es nicht nur versäumten unsere (angenommenen) russischen Wurzeln zu pflegen, sondern offenbar auch unseren Kindern diese Sprache vorenthielten.
Als wir am fünften und vierten Stock vorbeifuhren, begann die Frau nun auf Russisch richtig loszulegen. Mit den paar Vokabeln, die meine Frau und ich in den vergangenen Jahren aufgeschnappt hatten, wurde uns sehr schnell klar, dass die Frau die Tatsache beklagte, dass die russischen Großmütter (Babuschek) ihren Kindern kein vernünftiges Russisch (Russki) mehr beibrachten, da die Kinder das ortsansässige Hebräisch (Ivrit) bevorzugten.
“Babuschka, Babuschka“, imitierte die Frau den Wortlaut kleiner Kinder, und schüttelte den Kopf.
Als wir im zweiten Stock angekommen waren, redete die Frau immer noch auf Russisch auf uns ein, in stillschweigender Gewissheit, dass wir jedes Wort verstanden. Und so murmelte ich auf Deutsch in den Raum: “Ja klar, da kann ich auch einfach auf Deutsch losbrabbeln, versteht doch kein Mensch, nicht wahr?”
Die Frau hörte ruckartig auf zu sprechen. Mit großen Augen, angetrieben von neuem Eifer sagte sie: “Ooooh! Ihr sprecht Jiddisch!”
“Nein”, dachte ich als Antwort. Niemand hat auch nur ein Wort auf Jiddisch gesagt. Aber es war zu spät. Die Frau kam nun richtig in Fahrt, begann auf Russisch weiter auf uns einzureden. Es schien, als ob wir unseren mangelnden Willen, unseren Kindern Russisch beizubringen, durch das Jiddisch wieder wett gemacht hatten. Noch im Erdgeschoss rief uns die Frau mit breitem Lächeln Wortschwälle auf Russisch hinterher. Es hatte alles keinen Zweck. Wir gingen rasch auf den Ausgang zu und ich rief der Frau ein paar Worte Jiddisch zu, die ich durch ähnliche Begegnungen aufgeschnappt hatte: “Sey gesunt!”, und so verließen wir schleunigst das Gebäude.
Ob sich das Verhalten der Frau vielleicht doch mehr auf Heimweh nach dem russischen Kontintent gründete als auf nahöstlicher Vorstellungskraft muss der Leser selbst entscheiden.
Aber es bleibt die Tatsache, dass sich in Israel nicht nur Kulturen, Sprachen und Religionen in wildem Durcheinander vermischen, sondern dass auch immer eine gehörige Portion Wunschdenken dabei ist. Die Annahmen, wer jemand ist und woher er kommt, hinken der Wirklichkeit oft nicht nur meilenweit hinterher, sondern bilden ihre eigene Wirklichkeit. Hat man sich einmal in den Annahmen eines Gegenüber verfangen, lohnt es sich nicht, dem zu widersprechen. Ist man einmal “adoptiert” in den Kulturkreis dem man zugeschrieben wird, ist es am besten, diese Rolle einfach anzunehmen und zu improvisieren.
Und so wird der Alltag in Israel zum Shakespearschen Laienspiel, auf dessen Bühne wir die Wirklichkeit je nach Gegenüber und Begegnung wechseln wie Kostüme.