Nach einem langersehnten Wolkenbruch – dank der monatelangen Sommerhitze wird dieses Herbeisehnen selbst für den Mitteleuropäer verständlich – entschieden meine Frau und ich uns zu einem kleinen Spaziergang durch die Nachbarschaft. Ausgerüstet mit Regenschirm, den wir letztlich nur mit uns herumschleppten und Pullovern, die in der plötzlich auftretenden Mittagshitze gänzlich fehl am Plätze waren, machten wir kurz halt und verstauten die Kleidungsstücke in einen Rucksack, den meine Frau in ihrer Vorsehung scheinbar eigens dafür mitgeführt hatte.
Kaum hatten wir den Reißverschluss zugezogen, den die Israelis übrigens “Ritsch-Ratsch” nennen, überquerte eine Frau von knapp 70 Jahren die Straße und ging geradewegs auf uns zu.
“Vy govorite po-russki?”, sagte die schmächtige Dame mit forschem Blick.
“Lo”, antwortete meine Frau, in jener effektiven Art der Negation, wie sie nur im Hebräischen existiert. Es muss an dieser Stelle gesagt werden, dass die Frage der Frau, ob wir Russisch sprächen, oft nur als “po-ruski” verkürzt, dank dem großen Zustrom von Einwanderern aus der ehemaligen Soviet-Union ein unausweichlicher Bestandteil des israelischen Alltags geworden ist. Und so ist es also bei weitem keine Seltenheit auf der Straße mit “po-ruski?” angesprochen zu werden.
Kaum eine Woche vergeht, in der nicht das Telefon klingelt – unbekannte Nummer – und beim Drücken auf den grünen Knopf eine Stimme am anderen Ende der Leitung fragt: “Po-ruski?”, woraufhin wir den anonymen Anrufern auf Hebräisch versichern, dass sie sich offensichtlich verwählt haben. Ob es sich bei den häufigen Fehlverbindungen um einen Zahlendreher handelt, der unsere Nummer einer Hauptanlaufstelle für russische Belange ähneln lässt, oder ob es sich um immer neue gescheiterte Kontaktaufnahmen handelt, konnten wir bisher noch nicht feststellen.
“Lo”, sagte meine Frau also und warf mir einen vielsagenden Blick zu.
“Lo”, sagte ich ebenfalls, und hatte dieses “po-ruski” mental schon den hundert anderen “po-ruskis” in meiner Erinnerung beigefügt, als meine Frau plötzlich hinzufügte: “Jiddisch?”
Die ältere Dame begann eifrig zu nicken und sagte etwas, das so klang wie “Ju! Kunn sie mir hulfn?”, und deutete auf ihren Regenschirm.
Wir stellten sachkundig fest, dass sich zwei der Metallstäbe ihres Regenschirms aus den Halterungen gelöst hatten und dass sie uns bat, bei der Reparatur behilflich zu sein. Und während ich die Metallstäbe sorgfältig in die Halterungen einfügte, plauderte ich ein wenig mit der Dame. Ich bin des Jiddischen strikt genommen ebenso wenig fähig wie des Russischen, aber wann immer immer ich die Gelegenheit dazu bekomme, spreche ich es dennoch gerne. Praktisch funktioniert das so, dass ich meine Muttersprache nehme und die Laute einfach ein wenig verschlucke und dehne. Schon mehrmals hat mich das “po-ruski” in diese seltsame aber nicht unangenehme Lage gebracht, dass, wo vorher bloß achselzuckendes Unverstehen herrschte, dank des Jiddischen plötzlich ein natürlicher Redefluss hergestellt war und Sprachbarrieren wie auf einen Schlag beseitigt schienen.
Diese Dialoge sind nur schwer schriftlich zu rekonstruieren aber klingen in meiner Erinnerung ungefähr so:
“Vieln Dünk fir di Hülf!”, sagte die Frau.”Sehr freyndlich!”
“Gurn g’schuhn”, entgegnete ich. “Jetzt ist dur Reygenschierm wid’r gut,”
“Wu kimm Sie hier?”, fragte die Dame. “Us Amurika? Od’r Grußbritannien?”
“Deutschland”, sagte ich, und bereute es bereits, doch die Dame sagte nur nickend: “Ah, Ustralien! Dus ist scheyn!”
“Ju, Ustralien”, antwortete meine Frau, die nicht häufig Deutsch spricht, aber sich mit Freude auf jede Gelegenheit des Pritschen-Jiddisch stürzt.
Und so war der Regenschirm wieder hergestellt, die Mittagssonne brannte auf unsere Köpfe und die Frau verabschiedete sich mit den Worten: “Sey gesint!”, worauf wir ebenfalls antworteten: “Sey gesint!”, als wäre uns das Jiddisch in die Wiege gelegt.
Ob die Dame meine Antwort auf ihre Frage nicht verstanden hat, oder aufgrund einer verwickelten Geschichte nicht verstehen wollte, bleibt ungeklärt, ebenso wie die Tatsache, ob nicht ein akzentfreies Hannoveranisch just so effektiv gewesen wäre wie meine kläglichen Bemühungen, den Silben und Worten einen östlichen Anstrich zu geben, aber dass das Jiddische aus dem Sprachgewirr von Hebräisch, Deutsch und Russisch wieder einmal etwas zu zaubern wusste, daran ist kein Zweifel.