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ir befinden uns in einer Zeit, in der wir jeglicher Form von Wissen einen hohen Stellenwert beimessen — ob es sich dabei um sogenanntes “Grundwissen”, “Allgemeinwissen” oder “Fachwissen” handelt. Wir alle wissen (oder meinen zumindest zu wissen), dass man es ohne ein Mindestmaß dessen zu nichts bringe in dieser Welt.
Vorschulkinder werden deshalb frühzeitig in Hochschulen eingeschrieben, Hausfrauen belegen Abendkurse an Online-Universitäten, Bürohengste buhlen mit Zertifikaten um die Gunst von Chefetagen und Studenten sammeln Abschlüsse wie einst andere Briefmarken und Kronkorken.
Doch worum genau geht es uns in diesem “race of brains”, dem Wettlauf der grauen Zellen? Die meisten werden solche Fragen mit nicht mehr als einem Achselzucken und leicht gerunzelter Augenbraue beantworten. “Wozu? Was für eine Frage!” Man will weiterkommen, etwas aus sich machen, sich Tür und Tor offenhalten und aufsteigen auf der Karriereleiter, beziehungsweise seitwärts in andere Laufbahnen umsteigen.
Kurzum, wenn wir von Bildung sprechen, geht es im meisten Falle um nichts anderes als die zielstrebige Anhäufung von Wissen zwecks Erwerb von Leistungsnachweisen, Diplomen und anderen adrett gestempelten Papierchen.
Die Frage nach dem “Warum” ist dabei nicht wirklich erwünscht, sie wird sogar oft als störend empfunden, wie so manches Kind weiß, welches es wagte, seinem Lehrer mit Fragen aufzuwarten, die weit über den konkreten Lehrplan hinausführten und mit einem knappen “Darum” abgespeist wurde. Je schneller solches Nachdenken im Kern unterbunden wird, desto schneller gewöhnt sich der heranwachsende Mensch solche Fragen ab und fügt sich dem zähen Strom immer neuer Lehrinhalte, Aufgaben und Prüfungen, bis er es irgendwann gänzlich verlernt hat, und bereit ist für den Eintritt in die todernste Welt der Erwachsenen.
Aber seien wir mal ehrlich. Sind wir uns wirklich sicher, dass die Anhäufung von Wissen eine Erfolgsgarantie darstellt? Ist es eine unumstößliche Sicherheit, oder gehört nicht eine gewisse Portion Vertrauen mit dazu, wenn wir stillschweigend auf jene (zumindest im Westen) so beliebte Kette der Vorbedingungen verweisen, nach der das Wissen zu Abschlüssen führe, welche die Eintrittskarten in Berufe darstellen, die wiederum ein hohes Einkommen versprechen, welches dann als Basis eines Familienlebens oder Singledaseins in ein “glückliches, erfülltes Leben” umgemünzt werden könne?
Wir alle kennen die Geschichten von arbeitslosen Professoren und überqualifizierten Fachkräften, die trotz eines beachtlichen Aufgebots an Wissen von Bewerbungsgespräch zu Bewerbungsgespräch tingeln und sich vergeblich um Anstellung bemühen. Mit anderen Worten, basiert unser Wille zum Wissen vielleicht gar nicht auf einer klaren Kausalität, sondern vielmehr auf einem stillen Glauben, dass dieser Weg schon irgendwie zum erwünschten Ziel führe? Insgeheim ahnen wir, dass es letztlich keine Garantien gibt, und dass es irgendwann auch mit unserer Existenz hier ein Ende hat, doch das Leben in solch Ungewissheit ist lästig und nervenaufreibend. Welch ein Segen ist es doch dagegen, so zu tun, als ob alles klar und deutlich zu erklären wäre. Die Wissenschaft liefert uns täglich Munition im Kampf gegen diese schreckliche Ungewissheit. Selbst wenn wir etwas noch nicht wissen — es bleibt doch nur eine Frage der Zeit, bis wir es wissen werden! Aber letzte Gewissheit gibt es leider selten, und so kitten wir die Fugen unserer Weltanschauung mit der Hoffnung, dass sich eines Tages schon alles zum Ganzen fügen möge, oder man betäubt sich eben mit Drogen, Alkohol und Lärm.
Der moderne Mensch schmunzelt gerne über den Glauben an Geister und Dämonen vormoderner Gesellschaften, ob jene historisch oder bloß geographisch von ihm getrennt seien. Wir brüsten uns damit, einer klaren Weltsicht zu folgen, die auf den Säulen von eindeutig reproduzierbaren Einsichten über dem Morast der Ungewissheit thront.
Und doch haben wir unsere eigenen Götzen, ganze Pantheone voll von Gottheiten und Untergottheiten mit Namen wie “Erfolg”, “Karriere” und “Schönheit” denen wir Tag für Tag Tribut zollen, ob im sturen Büffeln in den Tempeln des Wissens oder eingespannt in die inquisitionsartigen Apparate von Fitnesscentern.
Wir schauen gerne bemitleidend und nicht ohne ein gewisses Maß an Hochmut auf die Generationen unser Vorväter und Urgroßmütter. “Damals wussten sie noch nicht dies und nicht jenes. Damals glaubten sie noch dies und das”, lautet das Mantra, in dessen Namen wir ganze Lehrbücher schreiben und die Vorgeschichte der Menschheit als eine endlose Kette von Irrungen und Wirrungen präsentieren, über die wir uns dank unseres Wissens erhaben fühlen.
Und so kommen wir schnell zu dem Schluss, dass die Mythen und Vorstellungswelt unserer Ahnen nichts weiteres als ehrbare, wenn auch klägliche Versuche waren, die Welt ohne den Segen moderner Wissenschaft zu begreifen. Guten Gewissens verwerfen wir all dies Frühere, im Vertrauen auf Statistiken, Messgeräte und das Hörensagen von Expertenmeinungen.
Und dennoch bleibt immer ein unauflösbarer Rest jenseits der Gleichungen, dem man mit einem täglich wachsenden Arsenal des Wissens aufwartet, und dennoch nie gänzlich gewachsen scheint. Trotz Technik, trotz weltumspannender Wissenschaft und Wohlstand leidet der moderne Mensch unter einer nie dagewesenen Bandbreite von Depressionen und Neurosen, Selbstzweifeln und Angststörungen. So übt man sich denn in Psychotherapie, Partnertherapie, “Familienaufstellungen” und fernöstlichen Beruhigungspraktiken (selbstverständlich gereinigt von jeglichem vormodernen, kulturellen Ballast) oder der Selbstmedikation mit Feierabendbier und dem tröstlichen Wummern der Bespaßungsgesellschaft.
Kurzum, all jenes im Menschen, was sich nicht der Quantifizierbarkeit unterwerfen lässt, verschwindet nicht, sondern führt forthin ein Schattendasein in dunklen Ecken des Geistes, wo es dann entweder den Hausfrieden stört oder bestenfalls zu Tage drängt in der tosenden Popularität von Superheld-Epen, Hausfrauenschmonzetten und Sonntagabendkrimis.
Wir haben unsere Welt fein säuberlich getrennt in Gesellschaftliches und Privates, Arbeit und Freizeit, Mythos und Wissenschaft. Und doch verschwimmen die Grenzen zunehmend. Die moderne Quantenphysik beispielsweise präsentiert Ergebnisse, die sie selbst nicht anders erklären kann, als auf fantastisch-anmutende Weltsichten zurückzugreifen, in denen wir alle in unendlichen Paralleluniversen existieren, wo alles irgendwie gleichzeitig möglich ist. Kurzum, selbst die Wissenschaft scheint den Mythos im Menschen nicht auszulöschen, sondern ihm bloß immer weiter entferntere Grenzen zu stecken.
Warum also sind wir so voreilig, vorgeschichtlichen Vorstellungswelten so schnell ihre Geltung abzusprechen? Vielleicht entziehen sich uns die alten Vorstellungen von Himmel und Hölle, Engeln, Dämonen und Fabelwesen nur dann, wenn wir sie einer ausschließlich quantifizierbaren Wirklichkeit gegenüberstellen, während wir doch gleichzeitig diese andere Welt in Form von Filmen, Romanen und Computerspielen zu schätzen wissen.
Vielleicht könnte es hilfreich sein für das wankelmütige Selbstverständnis in einem immer leerer und endloser scheinenden Universum, die Mythen und Vorstellungen unser Vorväter in einem anderen Licht zu sehen, nicht nur unter dem Aspekt des Nur-Quantifizierbaren, sondern im Sinne von psychologischen Qualitäten, die uns letzen Endes vielleicht doch gar nicht so fremd sind. Vielleicht wäre es einen Versuch wert, die Welt der Mythen nicht nur als Betäubungsmaßnahme und Flucht von grauem Alltag zu verstehen, sondern sie als sinnstiftenden Rückzugsort in einer durch Wissen und Wissenschaft zunehmend verflachten Weltanschauung zu begreifen.
Wer weiß, vielleicht finden wir am Ende sogar neue Deutungsmöglichkeiten für unser eigenes Dasein, wenn wir den Mythos zurückerobern aus seiner Verbannung in Kinosäle und Bestsellerlisten, und uns in der Anknüpfung an eine so alte und doch seltsam vertraute Sichtweise zurückhangeln in eine qualitativere Lebenshaltung, die nicht nur durch Erfolg und Geld bestimmt ist?
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