Es gibt zu viele Bücher in dieser Welt, und manchmal geht man blind an den besten vorbei, ohne den blassesten Schimmer, was einem entgeht. Und bei all dem grellen Gewimmel der Bestsellerlisten und häufig enttäuschenden Neuerscheinungen ist es vielleicht sinnvoll, beizeiten innezuhalten, einen Blick zurück zu wagen und alte Klassiker für unsere Zeit neu zu entdecken.
Joseph Roths “Hiob, Roman eines einfachen Mannes”, ist eine Nacherzählung der alten biblischen Geschichte eines vom endlos aufgetürmten Leid überwältigen Mannes, hier in der Figur eines gewissen Mendel Singers, ein Melamed einer kleinen jüdischen Gemeinde in einem russischen Dorf, das von ständiger Armut und Pogrom-Angst gebeutelt ist. Roths erzählerischer Stil ist verlockend — eine seltsame Mischung aus nüchterner Betrachtung, empathisch durchdrungenen Charakterisierungen und einer gewissen Portion Pathos, die doch nie gänzlich ins Pathetische abschwenkt — kurzum eine höchst eigene Art sinnlich-packender Erzählung, die zugleich tiefgreifend und sehr leicht zugänglich ist.
“Am Freitag scheuerte sie den Fußboden, bis er gelb wurde wie Safran. Ihre breiten Schultern zuckten auf und nieder im gleichmäßigen Rhythmus, ihre starken Hände rieben kreuz und quer jedes einzelne Brett, und ihre Nägel fuhren in die Sparren und Hohlräume zwischen den Brettern und kratzten schwarzen Unrat hervor, den Sturzwellen aus dem Kübel vollends vernichteten. Wie ein breites, gewaltiges und bewegliches Gebirge kroch sie durch das kahle, blaugetünchte Zimmer.”
“Hiob” wird oft in einem Atemzug genannt mit Roths Bestrebungen, die Lebenswelt der sogenannten Ostjuden für westliche Leser erlebbar zu machen, und die Bilder, die dieser Roman heraufbeschwört, erinnern oft stark an die Geschichten von Sholem Aleichem, dessen Geschichten als Basis für das weltbekannte Musical “Fiddler on the Roof” dienten. Es ist diese “Jiddischkeit”, die sich nicht nur in den Charakteren Roths zeigt, sondern auch in seiner Sprache, aber mehr dazu später.
Das wohl berühmteste Werk Roths ist und bleibt “Der Radetzkymarsch”, ein einzigartiger Roman über das Ableben der österreichisch-ungarischen Monarchie, das ich neben Thomas Manns Epos “Joseph und seine Brüder” für eines der großartigsten deutschen Prosawerke aller Zeiten halte.
“Und immer neue, siegreiche, silbergraue, schimmernde Schichten von Schlamm quollen aus den Tiefen empor, fraßen den Stein und den Mörtel und schlugen klatschend über den stampfenden Stiefeln der Soldaten zusammen.” – Der Radetzkymarsch
Nicht bloß aufgrund des inhaltlich dichten Stoffes, der eine eigene Diskussion erfordert, ist dieser Roman ein unvergessliches Leseerlebnis, sondern vor allem wegen jener Rothschen Prosa, die auch hier eine wundersame Brücke zwischen sinnlichem Erleben und innerer Reflexion zu schlagen versteht und immer wieder parabelartige, teils humoristische, teils brillante Vergleiche aufstellt, wie zum Beispiel: “Er hatte sich eine Alkoholauswahl zusammenstellen lassen, etwa wie sich ein Ungebildeter eine Bibliothek bestellt“, oder: “Frau von Taußig stellte dem nahenden Alter junge Männer entgegen wie Dämme.”
So wie es Thomas Mann verstand, die deutsche Sprache in einer wohltemperierten syntaktisch-kunstvollen Weise erzählerisch aufblühen zu lassen, so verbindet Joseph Roth in seiner Prosa hingegen die distinktive Schärfe des Deutschen mit einem so ganz anderen, zugleich fremden und urvertrauten Zugang, der nicht zuletzt auch durch seine österreichisch-jüdischen Wurzeln bedingt ist.
Uriel Birnbaum schreibt dazu in seinem Essay “Der wahre Osten: zu zwei Büchern von Joseph Roth”:
“Seine Heimat war die peripherste der ganzen Monarchie. Nicht nur dem äußeren, auch dem inneren Abstand nach. Als galizischer Jude (als ‘Polischer’, wie man in Wien seinesgleichen mit Hohn und Hass nannte,) trennten ihn mehr als Meilenmaße von den christlichen Mitbürgern, von der christlichen Wienerstadt, von dem katholischen Kaiser. Und doch hatte Habsburg, außer den Kroaten, keine treueren Anhänger als diese polnischen Juden. Bis tief nach Rußland hinein war dem Ostjuden ‘der Kaiser’ nicht etwa sein in Petersburg regierender Zar, sondern der in Wien residierende habsburgische Monarch.” – Uriel Birnbaum, Von der Seltsamkeit der Dinge
Weiter schreibt Birnbaum über die Sprachwelt Roths:
“Nun ist festzustellen, daß die erste Muttersprache dieses späteren Meisters der deutschen Prosa das Jiddische gewesen sein muß. Also eine östliche, eben erst entstandene Sprache voll ursprünglichen Lebens, in dieser Ursprünglichkeit allen altersmüden, abgeschliffenen westlichen Sprachen überlegen. Es ist zweifellos, daß der Ton des Jiddischen, in dem noch uraltes Deutsch mitklingt, von der Majestät des Hebräischen gesteigert und von der erdnahen Breite slawischer Idiome gefärbt, Joseph Roths einfache und eindringliche Sprache mitbestimmt.”
Und in der Tat — obwohl Roths Sätze und Absätze oft in langen Kaskaden über die Seiten fließen und atemlos übergleiten in Bilder, Gedanken und innere Landschaften ist seine Prosa nie abstrakt bildungsbürgerlich sondern durchweg einfach, im besten Sinne des Wortes, nämlich erzählerischer Einheit.
“Es war damals leichter! Alles war gesichert. Jeder Stein lag auf seinem Platz. Die Straßen des Lebens waren wohl gepflastert. Die sicheren Dächer lagen über den Mauern der Häuser. Aber heute, Herr Bezirkshauptmann, heute liegen die Steine auf den Straßen quer und verworren und in gefährlichen Haufen, und die Dächer haben Löcher, und in die Häuser regnet es, und jeder muß selber wissen, welche Straße er geht und in was für ein Haus er zieht.” – Der Radetzkymarsch
Im Vergleich zu Hiob ist der Radetzkymarsch weitaus komplexer, allein schon aufgrund des Genres — denn ersteres ist eine Parabel in Romanform, zweiteres eine Familiensaga und historischer Roman — was sich auch im Erzählstil reflektiert. Dennoch sind beide Werke von einer Prosa geprägt, die zutiefst musikalisch ist, oft gezeitenartig in gleichmäßigen Rhythmen auf- und abebbt und an T.E. Lawrence Kommentar über Roths Namenvetter Joseph Conrad erinnert:
“He’s absolutely the most haunting thing in prose that ever was: I wish I knew how every paragraph he writes (…they are all paragraphs: he seldom writes a single sentence…) goes on sounding in waves, like the note of a tenor bell, after it stops. It’s not built in the rhythm of ordinary prose, but on something existing only in his head, and as he can never say what it is he wants to say, all his things end in a kind of hunger, a suggestion of something he can’t say or do or think.”
Ich halte es nicht für sinnvoll, zu definieren, was objektiv “gute Prosa” bedeutet, und glaube auch nicht, dass eine aus tiefen Schichten quellende Erzählung sich irgendwelchen starren Formeln und “goldenen Regeln” unterwerfen lässt, aber eins ist sicher: wenn man auch lange nach dem Weglegen eines Werks noch weiter den Rhythmus der Worte verspürt, ähnlich wie man vielleicht noch viele Stunden nach einem Konzert gewisse Akkordabfolgen und Gesangspassagen in sich widerhallend findet — dann ist dies gute Prosa, einfach schon darum, weil sie wirkt.
Und vielleicht stammt ein Teil dieser zeitlosen Strahlkraft von Roths Prosa aus ähnlich tiefen, beinahe vorsprachlichen Quellen, wie der Ich-Erzähler in “Die Kapuzinergruft” beschreibt:
“Ihr Sprechen erinnerte mich an eine Art gedämpftes, gezähmtes, keusches und dennoch schwüles Gurren, an ein Murmeln unterirdischer Quellen, an das ferne Rollen ferner Züge, die man manchmal in schlaflosen Nächten vernimmt, und jedes ihrer banalsten Worte bekam für mich dank dieser Tiefe des Klangs, in der es ausgesprochen ward, die bedeutungsvolle, gesättigte Kraft einer weiten, und zwar nicht genau verständlichen, wohl aber deutlich erahnbaren verschollenen, vielleicht einmal in Träumen vage erlauschten Ursprache.” – Joseph Roth, Die Kapuzinergruft